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24.5.2003 taz Themen des Tages 322 Zeilen, DOMINIC JOHNSON S. 4
von DOMINIC JOHNSON
Am Morgen des 5. September 2002 hatte Diabo Kakani seine letzte Frühschicht. "Ich hörte Schreie und sah tausende Milizionäre mit Macheten, Gewehren und Messern auf dem Weg zur Klinik", berichtete der Chefpfleger von Nyankunde später. "Sie töteten wahllos - Männer, Frauen, Kinder, Alte."
Die Milizionäre des Ngiti-Volkes hatten sich an diesem Morgen eines der wichtigsten Krankenhäuser des Kongo ausgesucht. Während Kakani sich mit Kollegen und Patienten auf der Intensivstation verbarrikadierte, suchten die Milizen Angehörige des ihnen verhassten Hema-Volkes. "Dutzende Rebellensoldaten gingen durch das 250-Betten-Krankenhaus und töteten alle Patienten, die wie Hema aussahen, in ihren Betten: Kinder, Erwachsene, Alte, Frauen in Geburtswehen und Mütter mit Neugeborenen", berichtete der US-Arzt Dr. William Clemmer, der später Flüchtlinge aus Nyankunde betreute, auf der Grundlage von Augenzeugenberichten. "Danach gingen sie von Haus zu Haus auf der Suche nach Hema; sie schnitten ihnen die Kehlen durch und warfen die Körper auf die Straße, Frauen und Kinder gleichermaßen. Ihre Häuser wurden geplündert und niedergebrannt."
Nyankunde hatte damals etwa 10.000 Einwohner und beherbergte ein von US-Missionaren erbautes Krankenhaus, das einzige mit spezialisierten Abteilungen in einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern. Hilfswerke schätzen, dass allein am 5. September dort tausend Menschen ermordet wurden. Aber die Welt reagierte nicht.
Heute herrscht weltweites Entsetzen, weil Milizen derselben Kriegsparteien in der Stadt Bunia nur 45 Kilometer entfernt über 300 Menschen umgebracht haben. Und diejenigen, die für die Toten von Nyankunde politisch mitverantwortlich waren, rufen heute nach Eingreiftruppen für Bunia.
Das Grauen von Nyankunde blieb nicht auf den 5. September beschränkt. Am nächsten Tag, so Dr. Clemmers Bericht weiter, wurden alle verbliebenen Hema zusammengetrieben, nackt ausgezogen, gefesselt und ohne Nahrung und Wasser in einem Haus zusammengepfercht. Auch der Hema Kakani kam dorthin, nachdem die Milizen die Tür zur Intensivstation aufgebrochen hatten. Jeden Tag gab es unter den Gefangenen Tote. Sie landeten im nächsten Latrinenloch. Als die Latrine voll war, wurden die Leichen verbrannt. Nyankunde wurde geplündert, das Krankenhaus auch: "Türen, Fenster, Tische, Stühle, Geräte wurden weggetragen. Die Bücher der Pflegeschule und die Krankenakten wurden in ein großes Feuer geworfen. Hunderte Leichen wurden den Flammen übergeben."
Kakani kam frei, nachdem jemand bemerkt hatte, dass seine Frau die Kusine eines Ngiti-Milizenführers war. Am 12. September zogen die überlebenden Krankenhausmitarbeiter und Patienten zu Fuß in den Busch. Das Ziel: Oicha, 150 Kilometer südlich, Standort der nächsten Missionsstation. Wer in Nyankunde noch lebte, schloss sich dem Treck an. Am Schluss waren es über 1.700 Menschen. Sie erreichten Oicha am 22. September. Es war eine selbst für die Wirren des Kongo außergewöhnliche Odyssee.
Wie viele tausend Menschen in Nyankunde ums Leben kamen, ist nicht bekannt. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat nach ausführlichen Befragungen 1.200 Opfer bestätigt - und sagt selbst, dies sei wohl nur ein Bruchteil. Kein anderes Massaker im Kongokrieg hat eine dermaßen an den Völkermord in Ruanda erinnernde Systematik und Intensität erreicht. Aber es blieb ohne Echo.
Die Massaker von Nyankunde waren kein zufälliger Ausrutscher. Sie waren vorgeplant. Mitverantwortlich war mindestens ein Kriegsführer, der demnächst als Minister in der neuen Regierung der Demokratischen Republik Kongo sitzen wird. Die Friedensverträge für den Kongo gewähren für Kriegsverbrechen Immunität, nicht aber für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Vier Tage lang, so HRW in einem noch unveröffentlichten Bericht, berieten Ngiti-Milizenführer vor dem 5. September in den Bergen bei Nyankunde mit Führern der lokalen Rebellenbewegung RCD-ML (Kongolesische Sammlung für Demokratie/Befreiungsbewegung). Sie vereinbarten einen gemeinsamen Angriff auf Nyankunde, geleitet von RCD-ML-Kommandant Faustin Paluku und Ngiti-Milizenchef Khandro.
Das war ein strategischer Schachzug. Die RCD-ML ist die einzige kohärente Kabila-treue Bewegung im Osten Kongos, ein Stachel im Fleisch von Kongos Rebellen. Anfang August 2002 verlor sie die Kontrolle über die regionale Hauptstadt Bunia, kurz darauf auch über Nyankunde an die Hema-Bewegung UPC (Union kongolesischer Patrioten). Sie suchte daraufhin das Bündnis mit den Ngiti-Kämpfern - die Ngiti sind eine Untergruppe des Lendu-Volkes, das mit den Hema verfeindet ist. Schon seit Jahren betreiben Milizen von Hema und Lendu die gegenseitige Ausrottung. Jetzt machte sich mit der RCD-ML erstmals ein anerkannter Teilnehmer an Kongos Friedensprozess, verbündet mit Präsident Kabila, den ethnischen Krieg zu eigen.
Die Absprache war, so HRW unter Berufung auf Beteiligte an den Planungstreffen: Die Ngiti helfen der RCD-ML gegen die UPC und dürfen als Belohnung die Hema von Nyankunde umbringen. Ngiti-Milizionäre wurden damals in der RCD-ML in deren Hauptstadt Beni trainiert, wo Militärs von Kabilas Armee als Ausbilder arbeiteten.
Als sich in Nyankunde die Leichen stapelten, schlug international niemand Alarm. Es war ja keine UNO vor Ort. Ärzteverbände und Hilfswerke schwiegen nicht: Am 18. September nannten evakuierte Ärzte erstmals die Zahl von 1.000 Toten; medizinische Hilfswerke in Oicha meldeten 100.000 Flüchtlinge im Anmarsch. Doch als die Überlebenden aus Nyankunde in Oicha ankamen, verstummten selbst diese Stimmen. Denn der Konvoi war von Militärs der RCD-ML eskortiert. Die brachten die Flüchtlinge auf Linie. Pflichtschuldig "begrüßten" die evakuierten Ärzte später "die Intervention der Armee der RCD-ML, die die Ngiti daran hinderte, das Medikamentenlager zu plündern".
Nachfolgend setzte sich die Darstellung durch, wilde Milizen hätten in Nyankunde gewütet und die RCD-ML habe dann Frieden gestiftet. Eine Lüge, sagen die Augenzeugen von HRW. Zwar habe die RCD-ML nicht die Verwüstung des Krankenhauses gebilligt, das sie selbst hätte brauchen können. Aber sie billigte die Massaker.
Aufmerksamkeit erhielt der Krieg im Nordosten des Kongo erst, als die RCD-ML in Bedrängnis kam. Kurz vor Weihnachten 2002 stand ein Rebellenbündnis unter Führung der nordkongolesischen MLC (Kongolesische Befreiungsbewegung) kurz vor Beni. Zwar hatten sich seit September über 100.000 Flüchtlinge aus der Region Nyankunde um Oicha niedergelassen, aber erst jetzt schlugen UNO und die Regierung Kabila Alarm: Gigantische Menschenmengen seien auf der Flucht. Es habe sogar Kannibalismus an Pygmäen gegeben.
Diesmal wurde die internationale Diplomatie aktiv. Die UN-Mission vermittelte einen Waffenstillstand und schickte eine Untersuchungskommission los, die Mitte Januar befand, es habe seit Mitte Oktober 117 Hinrichtungen durch die MLC-Rebellen und ihre Alliierten gegeben. Die UN-Menschenrechtskommission erstellte darüber einen umfangreichen Bericht, der bis heute nicht publik gemacht worden ist. Nyankunde kam in den Untersuchungen nicht vor.
Plötzlich gingen Bilder von fliehenden Pygmäen um die Welt, nachdem jahrelange Kriegsgräuel im Kongo nie ein Medienecho gefunden hatten. Die RCD-ML, die selbst nie eines ihrer Mitglieder für Nyankunde zur Verantwortung gezogen hat, sprach von einer "geplanten Terroroffensive der MLC". Zugleich bezifferten örtliche Zeitungen die Zahl der wegen Kannibalismus zu Tode gekommenen Pygmäen auf neun. In Beni erzählten lokale RCD-ML-Anhänger der taz stolz: Endlich habe man mit den Pygmäen eine Völkermordkampagne lanciert, so wie es sonst immer nur "die Tutsi" täten.
Im März reichte die Regierung Kabila Klage gegen MLC-Chef Jean-Pierre Bemba wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem Internationalen Strafgerichtshof ein. Zugleich verstärkte Kabilas Armee ihre Präsenz bei der RCD-ML in Beni. Auch die Ngiti-Milizenführer gingen dort ein und aus. Der Ngiti-Führer aus Nyankunde, Kommandant Khandro, war da schon von seinem Stellvertreter Germaine getötet worden. Sein RCD-ML-Kollege Paluku saß im Gefängnis, weil aus seinen Einheiten zu viele Soldaten desertierten.
Es sollte nicht lange dauern, bis diese Koalition wieder in Aktion trat. Anfang März verjagte Ugandas Armee die UPC aus Bunia; zahlreiche Hema ergriffen die Flucht. Lendu-Milizen halfen daraufhin Ugandas Armee beim Krieg gegen die UPC. Am 4. April massakrierten Milizionäre, die in der Beschreibung von Augenzeugen bis in die Details denen von Nyankunde ähnelten, im Ort Drodro 300 bis 900 Menschen. Die UNO sprach vom größten Massaker des Kongokrieges. Eine Lüge aus Ahnungslosigkeit.
Der Krieg eskalierte weiter. Ugandas Armee zog am 4. Mai aus Bunia ab und überließ die Stadt den Lendu-Milizen, zu denen Ngiti-Gruppen unter Kommandant Germaine gehörten. Es folgten tagelange Gräueltaten. Lendu-Milizionäre aßen Innereien getöteter Hema. UN-Blauhelme standen daneben und taten nichts. Polizisten der Regierung Kabila, als neutrale Kraft nach Bunia entsandt, sollen den Lendu geholfen haben.
Am 12. Mai eroberte die UPC Bunia zurück. Seither fürchten die Lendu-Gruppen blutige Rache. Und plötzlich warnen UN-Verantwortliche vor einem Völkermord und rufen nach starken internationalen Eingreiftruppen. Die Regierung Kabila hat sich dem Ruf angeschlossen und will die UPC wegen Völkermordes anklagen.
Zugleich bereiten sich Kongos anerkannte Kriegsführer auf ihre gemeinsame Regierung vor, die dem Land Frieden bringen soll. Nächste Woche soll das Kabinett eingeschworen werden. RCD-ML-Führer Mbusa Nyamwisi wird voraussichtlich Minister für regionale Kooperation, was Zugriff auf lukrative Geschäfte ermöglicht. Und Nyankunde bleibt eine Geisterstadt.